Daily oder der Gefängnisausbruch

Nach vielen Jahren als Scrum Master, Agile Coach, Dozent und Berater habe ich sehr oft am Thema Daily gearbeitet, es erklärt oder darüber diskutiert. Oft krittelte ich an der Daily Disziplin herum. Hier zu spät, da struppige Technik, hier schlechte Vorbereitung, da überzogen detailliert, zu sehr was war gestern, zu wenig was mache ich heute – Commitment, Fokus als Team, ernst nehmen, wo wollen wir hin – sowas. In manchen Situationen erzähle ich dann die Gefängnisausbruch-Geschichte. Mehr als einmal wurde ich gebeten diese Geschichte aufzuschreiben und hin und wieder höre ich in Gesprächen mit dem Thema Daily: “Denk an den Gefängnisausbruch!” Meine Vermutung ist, dass manchmal eine Geschichte eingängiger ist, als bloße Fakten. (ST)

Rahmenbedingungen

Stell dir vor, du willst aus dem Gefängnis ausbrechen. Zuerst musst du dir bewusst sein, in welcher Lage du dich befindest. Dazu ein kleiner Ausflug in das (deutsche) Rechtssystem. Interessanterweise ist die reine Flucht aus einem Gefängnis nicht strafbar, weil der Gesetzgeber den Freiheitsdrang des oder der Einzelnen nicht unter Strafe stellen möchte. Unsportlichkeiten wie Sachbeschädigung, Körperverletzung, Bestechung, Bedrohung, Geiselnahme, Diebstahl und so weiter sind natürlich Straftaten und nicht von der Flucht gedeckt. Schafft man es also irgendwie allein aus dem Gefängnis, ohne eine Straftat zu begehen, dann kann man für die Flucht nicht (zusätzlich) bestraft werden. Der wichtige Punkt ist: allein. Nach gründlichem Überlegen stellt sich sehr klar heraus, allein ist eine Flucht nahezu unmöglich. Es würde nur gelingen, wenn ihr in einem Team zusammenarbeitet und jetzt ändert sich alles. “Wer einem Gefangenen bei seiner Flucht hilft oder ihn zu seiner Flucht verleitet, kann mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden.” Weiterhin kommt noch die Strafvereitelung in Betracht, die auch mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Ein weiteres Problem ist, gegen Ausbrecher dürfen in Deutschland auf der Flucht Schusswaffen eingesetzt werden. Daraus ergeben sich zwei klare Bedingungen für den Ausbruch:

  1. Alle im Fluchtteam müssen mit raus, keiner bleibt zurück.
  2. Es gibt nur einen Versuch.

Ein Fehlschlag kann tödlich sein. Wenn nicht, ist der nächste Versuch deutlich schwerer und Haftlockerungen oder die Chance auf Bewährung sind verspielt.

Im Gefängnis

Daily oder der Gefängnisausbruch (Das Gefängnis mit Höfen, mauern, Wärtern, Kameras und Daily Team)Die Situation ist folgende. Täglich von 9 bis 10 Uhr haben alle Häftlinge aus den Gefängnistrakten I, II und III Freigang im Hof. Jeder Trakt hat einen eigenen Hof. Die Höfe sind mit Zäunen voneinander getrennt. Unterhaltungen mit Insassen eines anderen Trakts sind nicht gestattet. Kurz nach dem Aufschluss für den Hofgang ist Schichtwechsel bei den Wärtern. Während der Schichtübergabe von 9:15 bis 9:30 Uhr im Verwaltungstrakt IV schaut niemand vom Wachpersonal in den Hof. Das ist zulässig, weil der Hof von allen Seiten von Gebäuden eingeschlossen ist und somit ein Fluchtversuch vom Hof ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus sind die Höfe Videoüberwacht. Es gibt pro Hof unterschiedliche Verantwortlichkeiten und jede Kamera sieht nur genau einen Hof. Aufzeichnungen werden, wenn überhaupt, nur einzeln angesehen, wenn es Raufereien gab. Personen von anderen Höfen sind dann nicht zu sehen. Auf die Monitore der Hofkameras wird während der Übergabe nicht geschaut. Zusätzlich patrouillieren im Außenbereich Wärter auf der Außenmauer, falls sich doch ein Häftling irgendwie durchmogelt. Die Patrouille auf der Außenmauer kann allerdings den Innenhof nicht einsehen, weil die Gebäude höher sind als die Außenmauer.

Daily Team im GefaengnisEs gibt somit während der Schichtübergabe ein Fenster von maximal 15 Minuten, um sich in der Mitte der drei Höfe unbemerkt zu treffen und auszutauschen. Es muss sehr schnell und konzentriert ablaufen. Jedes Teammitglied hat sich vorab genau überlegt, was es seinen Teammitgliedern sagen will. Welche Erkenntnisse zum gemeinsamen Ausbruch gibt es und was muss als nächstes getan werden, um dem Ziel näherzukommen? Gibt es etwas, bei dem Unterstützung notwendig ist? Alles andere ist unwichtig. Ob der Zellengenosse die ganze Nacht geschnarcht hat, ob das Essen gut oder schlecht war, ob die Wärter sich neue Schikanen ausgedacht haben, alles unwichtig, solange es nicht den Plan beeinflusst. Es geht los, wenn der letzte Wärter den Hof verlassen hat, egal ob alle da sind oder nicht. Manchmal müssen Häftlinge willkürlich in der Zelle bleiben und bekommen keinen Hofgang. Das ist nicht zu ändern (Daily ist wie Weihnachten, es findet statt, auch wenn nicht alle da sind). Während des Dailys spricht eine Person, die anderen hören aufmerksam zu, machen sich Notizen. Ist ein Teammitglied unaufmerksam und bekommt etwas nicht mit, kann das katastrophale Folgen haben. Muss etwas wiederholt werden, weil es schlecht erklärt wurde oder jemand unaufmerksam war, kostet es wertvolle Zeit. Allen ist klar, wenn sie die 15 Minuten überziehen und ein Wärter bemerkt das Treffen, gibt es Ärger. Das bedeutet auf jeden Fall keinen Hofgang am nächsten Tag. Im schlimmsten Fall Zellendurchsuchungen. Das würde alle blockieren oder zumindest zeitlich zurückwerfen. Nach dem Daily gehen alle so schnell wie möglich wieder ihren gewohnten Tätigkeiten nach, um nicht aufzufallen. Zu jeder möglichen Zeit arbeitet jedes Teammitglied fokussiert am Projekt Ausbruch und versucht Ärger und Ablenkungen aus dem Weg zu gehen. Es besteht immer das Risiko, dass Regeln willkürlich geändert werden und sich so die Umfeldbedingungen oder die Möglichkeiten der Zusammenarbeit wenden. Dann muss das Team einen neuen Modus etablieren bzw. wird im Projektfortschritt zurückgeworfen. Nur, wenn über eine lange Zeit, ein konstanter, regelmäßiger Modus ohne Unterbrechungen oder Störungen eingehalten werden kann, ist ein erfolgreicher Ausbruch möglich.

Fazit

Die Geschichte Daily oder der Gefängnisausbruch spricht nicht nur Teammitglieder an und zeigt beispielhaft, wie wichtig die Zusammenarbeit des Teams und der Beitrag jedes Teammitgliedes ist. Es adressiert auch klar das Management. Denn ohne ein stabiles Umfeld kann ein Team seine Aufgaben nicht oder bestenfalls nur schwer umsetzen. Es muss also beides, Team und Umfeld gleichermaßen Beachtung finden.


Mehr zum Thema Daily findest du im Kapitel: Statusberichte heißen Daily! in unserem Buch 23 Wege, um eine (agile) Transformation an die Wand zu fahren.

23 Wege, um eine (agile) Transformation an die Wand zu fahren. Weg 11: Statusberichte heißen Daily!


Für Einsteigerinnen & Einsteiger

Das Daily ist eine Besprechung des Teams von maximal 15 Minuten und ein Teil des Scrum Prozesses. Die Teilnehmenden stehen dabei. Aus diesem Grund wird es auch Daily Stand-up genannt. “Das Daily Scrum findet an jedem Tag des Sprints statt. Das Entwicklungsteam plant dabei die Arbeit für die nächsten 24 Stunden. Es überprüft die Arbeitsergebnisse seit dem letzten Daily Scrum und prognostiziert die im Sprint bevorstehende Arbeit, um die Zusammenarbeit und Leistung des Teams zu optimieren. Um die Komplexität zu reduzieren, wird das Daily Scrum an jedem Tag zur gleichen Uhrzeit am gleichen Ort abgehalten.” (Der Scrum Guide™, Deutsche Ausgabe, November 2017, S. 12)